Deutscher Aikido-Bund

DEUTSCHER AIKIDO-BUND e.V.

einziger vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) anerkannte Fachverband für Aikido

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Aikido – wie Harmonie geschieht (2. Teil)

Zulassungsarbeit zur Prüfung zum 5. Dan Aikido von Roger Zieger    
(Fortsetzung aus Heft 2/2010)

Ziel des Aikido ist nicht der Sieg über einen Gegner. Selbst wenn dies in einer Aus­einandersetzung nach außen so scheinen sollte. Mit westlichen Augen betrachtet, hat Nage natürlich gewonnen; deshalb liegt Uke ja auf dem Boden. Die Techniken, die im Aikido unterrichtet werden, sind durch­aus geeignet, in einer körperlichen Ausein­andersetzung angewandt zu werden. Nach den Maßstäben Ueshibas hat aber nicht Nage über Uke gesiegt, sondern er hat Harmonie wiederhergestellt. Beide gemein­sam haben das Chaos besiegt und den Bestand der Ordnung gesichert.
Der Angreifer wurde nicht gedemütigt oder abgewertet. Ihm ist eine Einsicht er­möglicht worden, die ihn selbst auf dem Weg zur Verwirklichung eigener Harmonie weiterbringt. Roger Frager erinnert an fol­gende Aussage Ueshibas: „Deine Einstel­lung gegenüber deinem Partner sollte die eines Elternteils gegenüber seinem Kind sein: vorbehaltlos liebend, aber mit der Er­wartung auf Gehorsam.“ 1
Wer nach dem Besonderen im Aikido sucht, dem, was das Aikido von den ande­ren Budo-Künsten unterscheidet, darf darum nicht nur auf die Techniken schauen.
Mit Recht könnten hier Jünger des Daito-ryu Ansprüche erheben; Ueshiba war Schüler Sokaku Takedas. Mit Recht könn­ten sich auch Schüler aller anderen Budo-Schulen melden, die Ueshiba in seiner Ju­gend studierte, und dem Aikido seine Ori­ginalität absprechen. An den Techniken allein kann man die Eigenständigkeit des Aikido nicht festmachen. Auch eine Aikido-Technik lässt sich so pervertieren, dass sie nicht Harmonie schafft, sondern zerstöre­risch ist. Auge um Auge, Zahn um Zahn – dem Angreifer wird mit gleicher – oder et­was kleinerer – Münze vergolten.
Das Besondere am Aikido liegt nicht in der Technik, sondern im Herzen des Aus­führenden. Die Techniken der alten Schu­len zielten darauf hin, eine Aggression zu beantworten oder auch aggressiv eigene Interessen durchzusetzen. Aikido zielt auf Herstellung von Harmonie. Es reagiert nicht auf Aggression, sondern es kommt ihr mit Liebe zuvor, es agiert.2
Sein Ziel ist nicht persönlicher Sieg und Herrschaft, sondern universelle Harmonie und Freiheit.3

4.     Irimi-Nage – Das Erreichen von Harmonie in der Praxis

Im nun folgenden Kapitel soll an Hand des Irimi-nage kurz verdeutlicht werden, wie die dem Aikido zugrunde liegende Philosophie praktisch umgesetzt werden kann. Die Technik Irimi-nage habe ich gewählt, weil es sich um eine der zwei grundlegenden Techniken des Aikido4 handelt.



 Uke (Angreifer, rechts abgebildet) ist im Begriff, Nage (Verteidiger) mit einem gera­den Schlag zum Kopf (Shomen-uchi) an­zugreifen. Nage befindet sich in einer Aus­gangsstellung (Kamae), die es ihm erlaubt, aus einer sicheren Position heraus jedem Angriff zu begegnen. Mit seinem Angriff versucht Uke, die schützende und den Ein­flussraum Nages begrenzende Tegatana (Schwert­hand) zu umgehen, und ist be­müht, so direkt dessen Zentrum anzugrei­fen.
Nage hat Ukes Absicht erkannt (antizi­piert). Durch die eingenommene Grund­stellung hat er Ukes Angriffsmöglichkeiten eingeschränkt und gelenkt (geistige Füh­rung im Vorfeld ohne körperliche Berüh­rung5).





Vermittels eines Gleitschrittes (Tsugi-ashi) und zweier halbkreisförmiger Schritte (Irimi-ashi + Tenkan-ashi) weicht Nage aus und tritt am beginnenden Angriff vorbei in Ukes Zentrum ein. Ukes Angriff geht ins Leere.
Während Uke und Nage vorher entge­gengesetzte Positionen eingenommen ha­ben, schauen nun beider Zentren in die gleiche Richtung. Der Angriff wurde ange­nommen (akzeptiert), Nage hat einen Weg gewählt, um die zerstörerische Energie des Angriffs umzuleiten.
Uke versucht nun sein physisches Gleichgewicht wiederzugewinnen, um er­neut angreifen zu können.







Nage lässt diese Bewegung zu und lässt Uke an sich vorbeilaufen, wobei Ukes Kopf an Nages Schulter fixiert wird.
In dem Versuch, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, richtet sich Uke auf. Nage erlaubt dies, bewegt sein Zentrum nun in einer dem Uke entgegengesetzten Richtung und tritt ein. Uke wirft sich so praktisch selbst.



Nage erlaubt Uke, sich durch eine Fall­schule aus der Technik zu lösen. Ukes weiteres Verhalten wird zeigen, ob er die Belehrung verstanden hat.
In der Technik lässt sich nachvollziehen, was Aikido beinhaltet: Die Absicht des An­deren wird antizipiert. Die eigene Position wird nicht so wichtig genommen, dass sie ohne Nachdenken verteidigt würde. Sie wird vielmehr überdacht und angepasst. Der Angriff geht ins Leere, weil Nage nicht auf dem eigenen Standpunkt beharrt, ihn vielmehr verändert. Er nimmt Ukes Stand­punkt ein und harmonisiert die eigene Be­wegung – in Richtung und Timing – mit der Ukes.
Die Technik endet damit, dass Nage Uke die Chance gibt, sich aus der Technik durch eine Fallschule zu lösen. Wenn Uke sich erhebt, wird er wieder die offene Hand Nages sehen, bereit, die seine in Freund­schaft zu ergreifen oder ihm, wenn es sein muss, eine weitere Lektion zu erteilen.
Auf dem Hintergrund des Aikido wird kein Sieg errungen. Nage und Uke sind als Einheit zu begreifen. Nage lenkt Uke von der Aggression hin zur Harmonie. Zumin­dest in der Technik wird diese Harmonie sofort Wirklichkeit. Nach Abschluss der Technik hat Nage seinen Teil getan. Nage hatte dabei die Rolle des Führenden, Hin­weisenden.
Nage hat die Initiative nicht einen Mo­ment aus der Hand gegeben, genauer ge­sagt, er war die ganze Zeit über in Harmo­nie: Er war im Gleichgewicht; er hat keine Position eingenommen, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hätte; weder hat Nage sich eine Position aufzwingen lassen noch Uke mit Gewalt eine Position aufge­zwungen – er hat „nur“ Ukes Bewegungen geführt. Nage geht aus der Technik durch Erfahrung bereichert, aber (und) in seiner Harmonie mit der Umgebung ungetrübt hervor. Er hat im übertragenen Sinn dafür Sorge getragen, dass das harmonische Gleichgewicht wiederhergestellt wurde.


5.    Aikido – der Weg des harmoni­schen Geistes

5.1.    Harmonie
In den vorhergehenden Kapiteln habe ich darzustellen versucht, dass eine Aikido-Technik nicht dem Kampf, sondern der Wiederherstellung der Harmonie zwischen Menschen dient. Dabei habe ich auf die Probleme für unser Verstehen hingewie­sen. Diese können auftreten, wenn wir uns die von Ueshiba geprägten Begriffe aneig­nen und sie gebrauchen, ohne ihren kultu­rellen Kontext zu beachten. In den beiden abschließenden Kapiteln werde ich nun versuchen, pointiert zusammenzufassen, was Aikido für den Aikidoka bedeuten kann.
O-Sensei Morihei Ueshiba ging es nicht um das Beherrschen anderer. Sein Ziel war Harmonie. Und Harmonie mit dem Univer­sum, das wusste Ueshiba genau, fängt immer im eigenen Herzen und vor der eig­nen Haustür an.6
Niemand kann darum für sich das Aikido als Lebensweg reklamieren, ohne gleich­zeitig bereit zu sein, in Harmonie mit ande­ren zu leben; ohne an sich und an (bzw. mit) anderen zu arbeiten. Aikido bedeutet, sich um Harmonie zu bemühen.

Um des Weges willen,
bringt eure in sich selbst
    verfangenen Feinde
zu ihren Sinnen, nutzend
Worte der Ermutigung und Anleitung,
gegründet in den Techniken der Liebe.7

Aikido ist nicht Mittel zum Zweck, von Ueshiba entwickelt, sondern Weg zum Ziel, von Ueshiba entdeckt.


5.2.     Freiheit
Mit Erreichen dieser inneren und äuße­ren Harmonie gelang Ueshiba, was in der Technik exemplarisch aufblitzt: O-Sensei Ueshiba wurde zum Mittelpunkt; zum Mit­telpunkt seiner Techniken, zum Mittelpunkt seines Lebens, zum Mittelpunkt seines Uni­versums. Von dieser Position aus begeg­nete er ruhig und offen allem, was auf ihn zukam, mit angemessener Aktion, gegebe­nenfalls die gestörte Harmonie wiederher­stellend.
Wenn ein Aikidoka in der Nachfolge O-Senseis handelt, wenn er sich einbinden lässt, dann tut er dies freiwillig, weil er sieht, dass dies der Harmonie zuträglich ist – aus freien Stücken.
Er handelt nicht, weil er muss. Er han­delt nicht aus Rache. Er handelt, weil er so Harmonie schafft oder besser: wiederher­stellt.



6.     Schlusswort

Wo bleibt die Einlösung des auf den vor­ausgegangenen Seiten Behaupteten sei­tens der Aikidogemeinde?
39 Jahre nach dem Tode O-Senseis ist die Welt nicht friedlicher geworden; auch die Harmonie in der relativ überschaubaren Aikido-Gemeinde lässt zu wünschen übrig. Alles nur ein Wolkenkuckucksheim und zurück zu den handwerklichen Techniken?
Wir sind auf dem Weg. O-Sensei konnte uns diesen nur zeigen, nicht aber ihn für uns gehen. Dass ein Ziel von wenigen er­reicht wird, beweist nicht, dass es uner­reichbar wäre.
Vielmehr könnte der Grund dafür in der Tatsache liegen, dass viele der Reisenden das Ziel von Harmonie und Freiheit nicht teilen und darum auch gar nicht erreichen wollen! Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht nach dem Ziel suchen, sondern mit einem Etappenziel zufrieden sind, welches ihnen als Mittel zum Zweck dienen soll; dass sie z. B. eine effektive Kampftechnik suchen, dass sie nicht daran interessiert sind, in Harmonie zu leben, sondern viel­mehr das eigene Ego stärken wollen. Oder es ist so, dass sie nicht bereit sind, sich der Verantwortung zu stellen, nicht mehr eige­nes Versagen und Handeln als fremd­bestimmte Reaktion rechtfertigen zu kön­nen.
Allen, die ernsthaft suchen und die noch nicht gefunden haben, dieses Gedicht O-Sensei Ueshibas zu Ansporn und Trost:

Wenn du den traurigen
Zustand der Welt siehst,
wimmere nicht hilflos!
Erfüllt von göttlichem Zorn
lasset uns mutig voranschreiten!8



Nachklang

19 Jahre nach dem Fall der Mauer erle­ben wir eine Welle von so genannter „Ostalgie“. Kino und Fernsehen haben auf­gegriffen, was aufmerksame Be­ob­achter bereits wenige Jahre nach dem Ende der politischen Systeme des ehemaligen Ost­blocks vermeldeten: Man sehnt sich nach vergangenen Zeiten und immer öfter hört man ein sehnsüchtiges „es war doch nicht alles schlecht“. Die einst ersehnte Freiheit scheint den so Beschenkten im Munde schal geworden zu sein.
In einer Sendung des Deutschlandfunks aus Gori, der Geburtsstadt Joseph Vis­sa­rionowitsch Dschugaschwilis, besser be­kannt unter seinem Parteinamen Stalin, konnte man bereits vor neun Jahren hören, wie gut dieser wohltätige „Vater der Völker“ für die Seinen gesorgt habe: „Da gab es noch Sicherheit, Arbeit, Brot.“
Niemand muss weit gehen, um solche Töne zu hören. Viel zu oft ertönt der Ruf nach „einem Führer“ auch in einem Land, das eigentlich wissen müsste, was „ein Füh­rer“ anrichten kann, wenn er nur genü­gend willfährige Helfer hat.
Natürlich kann es – bedingt durch per­sönliche Notlagen – Gründe geben, die ein Verklären der Vergangenheit zumindest verständlich machen.
Wer es geschafft hatte, sich seine ei­gene soziale Nische zu erobern, mag sich – nach dem Verlust derselben – das alte Regime zurückwünschen. Auch wenn dies bedeuten würde, Freiheit und Autonomie aufzugeben; „zuerst kommt das Fressen und dann die Moral“. Mr. Peachum9 trifft den Nagel auf den Kopf: Wer Hunger hat, will Brot, nicht einen Reisepass!
In dem Bestreben, das eigene Leben und das der Familie so sicher wie möglich zu machen, sind Menschen bereit, auf per­sönliche Freiheiten zu verzichten. Persön­liche Freiheit, die Freiheit überhaupt hat nämlich einen Preis: Verantwortung und Unsicherheit.10 Frei zu sein in der eigenen Entscheidung bedeutet, verantwortlich zu sein.
Ich verstehe den Wunsch nach Sicher­heit; trotzdem geht mir das harte, Benjamin Franklin zugeschriebene Wort nicht aus dem Kopf: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.“
Kann man beides sein, frei und sicher? Wer frei ist, ist zwar vielleicht nicht sicher, aber ohne Freiheit gibt es keine Sicherheit, nur Ruhe.
Sicher ist eins: Ob nun sicher und/oder frei, beides und/oder keines, die Menschen wollen vor allem leben.
Dieser alles beherrschende Trieb, „leben – überleben“ zu wollen, lässt sie Dinge er­tragen, die unerträglich scheinen.
Das kann dazu führen, dass „freiwillig“ Lebensbedingungen akzeptiert werden, welche die Individuen in starke Abhängig­keiten von anderen oder von einem über­geordneten System führen. Und diese Taktik ist so schlecht nicht, wenn das Überleben zur höchsten Priorität erklärt wird.
Der einzelne Mensch braucht einen „Platz in der Gesellschaft“, wenn er nicht wie Robinson leben will.11 Jede Ge­mein­schaft als Zwangsge­mein­schaft abzutun, wäre falsch. Auch jede Rücksichtnahme und Einschränkung als autoritäre Unter­drückung zu brandmarken, wäre nicht rich­tig.
Ohne Regeln, an die sich der Einzelne zu halten hat, kann es keine Gesellschaft und kein harmonisches Zusammenleben geben. Die Existenz von Regeln bedeutet nicht automatisch völlige Unfreiheit für den Einzelnen. Entscheidend ist die Antwort auf die Frage, warum ich mich an Regeln halte:
 
a)    weil sie nun einmal da sind („die da
oben“12 werden schon wissen wozu)     
oder
b)    weil „die“ sie mit Gewalt durchsetzen    
oder
c)    weil ich sie einsehe?

Aus der Antwort auf diese erste Frage ergibt sich die Antwort auf folgende wei­terführende, grundsätzliche Frage: Bin ich fremdbestimmt oder eigenbestimmt – agiere ich oder reagiere ich?
Aikido – der Weg des harmonischen Geistes – ist nicht nur Kampfkunst, son­dern gibt dem Suchenden Mittel an die Hand, für sich eine Antwort auf diese Frage zu finden und vom Reagierenden zum Agie­ren­den zu werden.
Das von O-Sensei Morihei Ueshiba er­kannte13 Aikido, steht am Ende einer lan­gen Entwicklung und bietet genau das: das Ende der Fremdbestimmtheit. Ohne Ge­heim­nis – aus dem Geist des Aikido.

„Fortschritt kommt zu denen,
die sich üben
in den äußeren und inneren Dingen.
Jage nicht „verborgenen Techniken“ nach,
denn alles geschieht direkt
vor deinen Augen!“14

Literaturverzeichnis

Brand, Rolf: „Aikido – Lehre und Technik des harmonischen Weges“, Falkenver­lag, Niedernhausen/Ts. 1995
Cleary, Thomas: „Zu wissen wann man kämpfen soll“, Aurum-Verlag, Braun­schweig 1991
„Oxford Advanced Learners Dictionary of Current English“, Oxford University Press, 3. Auflage London 1974
Perry, Susan Hrsg.: „Remembering O-Sensei – Living and Training with Mori­hei Ueshiba, Founder of Aikido“, Shambhala Poblications Inc., Boston Mass 2002
Pranin, Stanley: „The Aiki News Encyclo­pedia of Aikido“, Tokyo 1991
Seigel, Jerrold: „The Idea of the Self – Thought and Experience in Western Eu­rope since the Seventeenth Century“, Cambridge University Press, 3. Auflage 2007
Stevens, John Hrsg.: „The Essence of Ai­kido: Spiritual Teachings of Morihei Ueshiba“, Kodansha International Ltd., Japan 2002
Stevens, John: „Unendlicher Friede – Die Biographie von Morihei Ueshiba, Grün­der des Aikido“, Werner Kristkeitz Ver­lag, Heidelberg-Leimen 1992
Tamura, Noboyoshi: „Aikido – Etikette und Weitergabe“, Hrsg. Dieter Jöbstl, Wien 2000
„The New Encyclopaedia Britannica“, En­cyclopaedia Britannica Inc., 15. Auflage, Chicago 1995
Williams, Bryn Hrsg.: „Die Kunst der Selbstverteidigung“, Albatros Verlag, Zollikon 1975

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