oder:
Warum fährt „man“ zum Aikido
nach Cardiff
Unser Weg nach Cardiff führte uns vor wenigen Jahren über Frankreich, wo wir im Sommer den traditionellen Lehrgang bei Maître Brun besuchten. Dieser lockte neben den vielen Franzosen und Rumänen auch uns Deutsche und zwei Engländer an. Einer der Briten war Alister Gillies, ein Meister, der neben seinen britischen Verbandsmitgliedschaften und entsprechenden Graduierungen auch eine Graduierung (4. Dan) von Maruyama Sensei erhalten hatte.
Was hat dies nun mit dem Doshu in England zu tun? Für mich bedeuten diese Zusammenhänge sehr viel. Zeigen sie doch, wie bunt und vielfältig die Verbindungen und Freundschaften im Aikido sein können, wenn man sich „traut“, auch mal über den Tellerrand zu schauen, sich offen auf die anderen Verbände (und deren Aikidoka = Menschen) zubewegt und nicht glaubt, sich als DAB-Aikidoka mit seinem Aikido „verstecken“ zu müssen. Aber dazu später mehr.
Alister lud uns, nachdem er schon zuvor auch bei uns in Lübeck einen Lehrgang geleitet hatte, ein, in diesem Jahr nach Großbritannien (South Wales) zu kommen. Er und einer seiner langjährigen Aikido-Freunde pflegen einen sehr intensiven Kontakt mit verschiedenen japanischen Meistern. Da beide nicht bzw. nicht nur Mitglied im britischen Aikikai sind, ist es um so erstaunlicher, dass sie mit einer sehr ungewöhnlichen (?) Idee Erfolg hatten.
Wie in so vielen Ländern, so scheint es mir zumindest, ist die Situation in England die, dass es viele verschiedene Aikido-Verbände gibt, die (Zitat eines Engländers) „… practice aikido at the cutting edge of true aikido“ (frei übersetzt: „... das einzig wahre Aikido praktizieren“). Dieser englische Kollege fügte im Nachsatz hinzu, dass es offensichtlich sehr viele „cutting edges“ gibt; „wie ein elektrischer Rasierer“. Dies nennt man dann wohl englischen Humor.
Zurück zur Idee. Sollte es vielleicht im Sinne der Harmonie im Aikido möglich sein, einen verbandsoffenen Lehrgang durchzuführen und als Lehrer hierfür den Doshu Moriteru Ueshiba einzuladen? Ja, es war möglich und es war eine tolle Veranstaltung. Offiziell waren 600 Aikidoka aus England und aller Herren Länder gemeldet. Inoffiziell sprachen die Organisatoren vor Ort von bis zu 800 Teilnehmern! Wir reisten am Freitag, den 18. Juni, leider etwas verspätet an. Schon im Flugzeug von Amsterdam nach Cardiff entdeckte man den einen oder anderen Reisenden, der doch bestimmt auch ein Aikidoka ist. Woran ich das festmachen möchte, weiß ich nicht wirklich. Aber es zeigte sich tatsächlich, dass man bei den meisten Vermutungen richtig lag und sich am Abend oder am nächsten Tag im Gi auf der Matte wieder traf.
An diesem Wochenende standen bis einschließlich Sonntag drei Trainingseinheiten beim Doshu, weitere drei Einheiten bei seinem Sohn Waka-sensei Mitsuteru Ueshiba und zusätzliche Trainings bei Terry Ezra und Kanetsuka-sensei auf dem Programm. Ein wirklich hochrangig besetztes Programm. Alles im Sinne des „Aiki“, ein Weg des gemeinsamen Lernens. Nun könnte ich durchaus, wie es typisch für einen Lehrgangsbericht ist, von den tollen Techniken berichten, die wir mit mehreren hundert Aikidoka auf der Matte übten. Aber das war weder so unterschiedlich zu den bei „uns“ geübten Techniken noch stand dies für mich im Vordergrund. Würde ich versuchen, die Techniken, welche Moriteru Ueshiba mit uns übte, zu beschreiben, käme ich doch schnell in die Gefahr, diese mit anderen zu vergleichen. Und dass ich nicht allein dieser Gefahr ausgesetzt bin, konnte ich auch schon dort auf der Matte bestätigt sehen.
Ist dies nun typisch menschlich oder typisch für das Aikido? Welcher Lehrer oder Verband ist denn nun „at the cutting edge“, sozusagen „in der Spitzenposition“? Wir brauchen offensichtlich Rangfolgen oder Hierarchien, um uns selbst einordnen zu können. Da können Dangrade schon ganz hilfreich sein …, nur was machen wir, wenn die Graduierungen von unterschiedlichen „Autoritäten“ vorgenommen wurden oder vielleicht auch unterschiedlich teuer waren? Ganz vertrackt wird die Situation, wenn eine vermeintliche Autorität keine Graduierung führt und trotzdem in der Hierarchie oben mitmischt. Einer solchen Person wird scheinbar Respekt gezollt, aber sie steht mitten im Kreuzfeuer der offenen oder weniger offenen Kritik. Diese Rolle auszufüllen, ist bestimmt nicht leicht.
Der Sohn des amtierenden Doshu und Urenkel von O-Sensei: Waka-Sensei Mitsuteru Ueshiba
Auf dem Lehrgang in Cardiff füllte für mich besonders eine Person diese Aufgabe meisterhaft aus. Waka-sensei, der jüngste familiäre Nachfolger in der Ueshiba-Familie, unterrichtete in seinen Einheiten so unprätentiös und mit so viel offensichtlicher Freude, dass man einfach nur Spaß und Freude beim Training mit ihm haben konnte. Er ist der Urenkel von O-Sensei und dabei ein junger, moderner Mensch, der offensichtlich selbst viel Spaß daran hat, mit Aikidoka aus den verschiedenen Ländern das Erbe seines Urgroßvaters weiterzutragen. So war er ständig zwischen den Demonstrationen für alle Trainierenden auf der Matte unterwegs und unterrichtete einzelne Teilnehmer, indem er mit ihnen übte.
Auch sein Vater, der amtierende Doshu, machte auf mich im Training einen offenen Eindruck. Leider wird er durch das Hoffieren vor und nach dem Training so stark von den Menschen „abgeschirmt“, dass man glauben könnte, es gehe bei seiner Person um mehr als das Aikido. Dies war schon damals bei den World Games in Mühlheim an der Ruhr so, wo ich das erste Mal bei ihm trainieren konnte, und es war auch an diesem Wochenende in England ähnlich. Es scheint also weder ein typisch deutsches noch typisch englisches Phänomen zu sein. Eigentlich schade, denn ohne die nötige Etikette aufzugeben, könnte ich mir vorstellen, dass allen ein offenerer Kontakt oder besser eine offenere Einstellung gut tun würde. Ich mag da falsch liegen, aber ich habe den starken Eindruck gewonnen, dass Waka-sensei sehr darum bemüht ist, und ich hoffe sehr, dass man ihm den Weg dafür nicht durch falsch verstandene Höflichkeit verbaut. Mehr aber befürchte ich, dass man ihm, wie auch schon seinem Vater, die offene und bescheidene Art als Schwäche auslegt und damit wieder in den Teufelskreis des Vergleichens einsteigt.
Doshu Moriteru Ueshiba
Mir gefiel es wirklich sehr, sowohl auf der Matte als auch z. B. nach dem Duschen auf dem Gang in ihm eine Person zu treffen, die sehr wohl die japanische Tradition der Familie Ueshiba verkörpert, als auch einen Menschen, der so wie einer von vielen begeisterten Aikidoka aus aller Welt ist.
Wenn ich dann auch mit vielen fremden Aikidoka üben und dabei feststellen kann, dass weder sie noch ich „etwas ganz anderes“ machen und wir uns trotz möglicher sprachlicher Probleme über die geübten Techniken austauschen, dann habe ich das Gefühl, im eigentlichen Sinne des Aikido zu trainieren. Und um das oben erwähnte Thema nochmals aufzugreifen, so kann man beim Beobachten des Doshu und seines Sohns feststellen, dass die Techniken und Ausführungen, die sie zeigen, einem doch sehr „vertraut“ sind. Und dann freue ich mich auch auf den nächsten Sommerlehrgang auf dem „Horn“ und auf mein Zuhause im DAB.
Somit habe ich nun doch schon wieder verglichen und bin selbst in die alte Falle getreten. Der Lehrgang beim Doshu war eine tolle Erfahrung und ich freue mich über die vielen Freundschaften und Bekanntschaften über die Verbandsgrenzen hinaus! Damit hat die Idee von Alister und seinem Aikidokollegen einen vollen Erfolg gehabt und ich wünsche mir mehr von solchen Lehrgängen. Es muss der Lehrer oder die Lehrerin ja nicht immer Ueshiba heißen. Es gehen doch auch Namen wie Heymann, Köppel, Oettinger ..., so lange wir nicht glauben „at the cutting edge“ zu sein.
Dr. Andreas Dalski,
Uni-Dojo Zanshin Lübeck e. V.